Scheinbare Widersprüche in der Bibel


von Josef Dražil

 

Es gibt eine große Anzahl von populären Büchern, die angebliche Widersprüche in der Bibel behandeln wollen, und viele Seiten und Videoclips im Web, die bemüht sind, vermeintliche Widersprüche in der Bibel zu finden und aufzulisten. Besonders letztere scheinen das Sprichwort: "Wer einen Hund schlagen will, der findet auch einen Stock", zum Motto gewählt zu haben. So sind diese Aufzählungen für Bibelkundige auf den ersten Blick nichts weiter als Strohmann-Sammlungen, die ihren Ursprung in der Unkenntnis der Macher haben, was das sozio-kulturelle Umfeld, die biblischen Sprachen und Vorstellungen und hermeneutische (auslegungstechnische) Prinzipien angeht.

 

Nicht selten ergeben sich Widersprüche einfach durch schlechte Übersetzungen. Ab und zu trifft man auf scheinbare Widersprüche, die dann ein Eintauchen in den Grundtext erfordern und ein Wortstudium und das Studium des engeren und weiteren Kontextes verlangen. Der größte Teil ist aber einfach schlampigem Denken geschuldet.

 

Bevor wir entfalten wollen, wie mit dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit biblisch und somit zur Ehre Gottes umgegangen werden soll, muss geklärt sein, was ein Widerspruch überhaupt ist.

Was ist überhaupt ein Widerspruch?

Warum sollte das nicht der erste Schritt sein, den Einwender zu fragen, was er mit einem "Widerspruch" überhaupt meint? Hat er darauf keine schlüssige Antwort oder Definition, dann weiß er nicht einmal, was er der Bibel vorwirft. (Weiter unten wollen wir die Frage behandeln, warum Widersprüche in einem Universum ohne Gott nicht erlaubt sein sollten.)

 

Ein Widerspruch ist dann gegeben, wenn eine beliebige Aussage A und das Gegenteil von ihr, nämlich nicht-A, wahr sein sollen und das zur gleichen Zeit und auf die gleiche Weise. Eine (beliebige) Aussage und ihr Gegenteil wären z.B.: "Die Bibel ist Gottes unfehlbares Wort" und "Die Bibel ist nicht Gottes unfehlbares Wort". Beide Aussagen können nicht wahr sein zur gleichen Zeit und auf die gleiche Weise. Das ist ein Widerspruch, weil sich beide Aussagen gegenseitig ausschließen. Es wird gegen den "Satz vom Widerspruch" (oder "Satz der Widerspruchsfreiheit") verstoßen. (Andere Bezeichnungen sind "Gesetz vom Widerspruch" oder "Gesetz der Widerspruchsfreiheit"). 

 

In den allermeisten Fällen sehen wir bei den Schreibern in ihrer Berichterstattung von gleichen Ereignissen (besonders in den Evangelien) eine unterschiedliche Gewichtung und das Hervorheben bestimmter Details, während sie der eine oder andere weg lässt. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass an unterschiedliche Menschengruppen (z.B. Juden und Nichtjuden) geschrieben wurde und damit verbunden mit einer anderen Absicht. Bei solchen Abweichungen handelt es sich um keine Widersprüche und die meisten konnten aufgelöst werden. Dieser Vorgang wird "Harmonisierung" genannt. Wenn eine zusätzliche Information einen „Widerspruch“ auflösen kann, dann handelt es ganz einfach um keinen Widerspruch. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie sich zunächst schier hoffnungslos unauflösliche "Widersprüche" in Wohlgefallen auflösen, dem empfehle ich diesen (englischen) Artikel von „Answering Islam“ über die Harmonisierung der Auferstehungsberichte.

Kann die Bibel unvoreingenommen überprüft werden?

Und damit sind wir auch schon beim entscheidenden Punkt, nämlich den Grundannahmen (Präsuppositionen), die jemand an die Bibel heranträgt und denen gemäß er sie deutet. Jemand kann z.B. mit der Grundannahme kommen, dass die Bibel entweder das ist, was sie zu sein bezeugt, nämlich absolut wahres Wort Gottes, oder eben nicht. In jedem Fall wird es Folgen haben hinsichtlich der Deutung der Bibel. Ersterer wird versuchen scheinbare innere Widersprüche aufzulösen. Letzterer wird das Bestreben aufweisen, seine Grundannahme, dass die Bibel ein Buch wie jedes andere ist, zu festigen. Tatsächlich werden beide von ihrer jeweiligen, im Vorfeld angenommenen, Überzeugung sogar geleitet werden. Dazu weiter unten mehr.

 

Wir müssen uns bewusst sein, dass Neutralität im Bezug auf Gott unmöglich ist (Mt. 12,30). Wer meint, er könne aus sich selbst, getrennt vom biblischen Gott und seiner Offenbarung, zu Wissen als wahren Überzeugungen kommen, der widerspricht der Bibel von vornherein. In diesem Fall ist Neutralität sofort ausgeschlossen, denn man tritt an die Bibel heran mit der Vorannahme, dass sie in diesem Punkt irrt. Wenn sie in einem Punkt irrt, dann ist sie nicht unfehlbar. Ist sie nicht unfehlbar, ist sie nicht Gottes Offenbarung. Ist nicht Gottes Offenbarung, ist sie wie jedes andere Buch zu behandeln.

 

Die historisch-kritische Methode ist alles andere als neutral. Ich zitiere hierzu Dr. Nestvogel: 

"An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist es dann der Theologe Ernst Troeltsch (1865- 1923), der die neue Haltung zur Bibel, die sich seit dem 17. Jahrhundert Schritt für Schritt wie ein Virus ausgebreitet hatte, noch einmal auf den Punkt bringt. In einem berühmten Aufsatz „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ (1898) formuliert er drei Säulen, auf denen die sogenannte „historisch-kritische Methode“ der Bibelauslegung beruht: Das erste Prinzip der Kritik erklärt den Menschen zur Gerichtsinstanz, vor der sich die Bibel verantworten muß. Das zweite Prinzip der Analogie erklärt Wunder für unmöglich: Es könne auch damals nur das passiert sein, was sich heute in unserer Alltagserfahrung zuträgt. Und schließlich das Prinzip der Korrelation: Jedes Geschehen muß aus einem innerweltlichen Geschehenszusammenhang heraus erklärbar sein. Es kann also nur das als wahr anerkannt werden, was sich unter natürlichen Bedingungen erklären lässt. Mit anderen Worten: Man schließt von vornherein aus, daß ein handelnder Gott aktiv in den Lauf der wirklichen Geschichte eingreift. Bei diesen drei Kriterien (Maßstäben) handelt es sich nicht um objektive Gegebenheiten, sondern um ein philosophisches Glaubensbekenntnis. Mehr noch: um eine Ideologie.“ (Quelle)

Was ist falsch an Widersprüchen, wenn die Bibel nicht Gottes Wort ist?

Jeder Mensch hat Glauben

Der Mensch hat Überzeugungen verschiedenen Grades. Die einen hält er eher lose und andere sind für ihn existentiell wichtig und so gut wie unaufgebbar. Die Summe dieser tief gehaltenen und schwer aufgebaren Grundannahmen eines Menschen macht seine Weltanschauung aus. Diese Grundannahmen über die Realität können sein, dass Gesetze der Logik existieren, dass die Sinne im Allgemeinen die Realität wiedergeben, dass das Erinnerungsvermögen im Allgemeinen verlässlich ist und alle oder bestimmte Erinnerungen aus der Kindheit nicht erst vor fünf Minuten erschaffen wurden oder dass der Mensch Wert und Würde hat usw.

 

Diese Grundannahmen werden vorausgesetzt und können nicht bewiesen werden. Es sind Prä-suppositionen, Vor-annahmen. Diese Vorannahmen können nicht überprüft werden, eben weil sie so grundlegend sind. So würde eine Überprüfung des Erinnerungsvermögens, bereits dessen Zuverlässigkeit voraussetzen. Oder woher wüsste jemand denn, dass der Test seines Erinnerungsvermögens letzte Woche gut ausgefallen ist, ohne dabei sein Erinnerungsvermögen ein- und die Zuverlässigkeit desselben vorauszusetzen?

 

Da wir von Widersprüchen reden: Wie sieht es mit der Logik aus? Kann jemand, ohne die Gesetze der Logik vorauszusetzen, argumentieren, dass es Gesetze der Logik gibt? Das ist unmöglich, denn jede Argumentation beruht auf den Denkgesetzen der Logik. Und das ist das Besondere an diesen fest gehaltenen Grundannahmen: Es handelt sich um notwendige Überzeugungen, ohne die der Mensch nicht funktionieren könnte. Daher hat jeder denkende Mensch eine Weltanschauung.

Jeder Mensch hat eine Weltanschauung

Eine Weltanschauung ist ein zusammenhängendes Netzwerk von diesen miteinander verbundenen Grundannahmen über die Realität, die nicht naturwissenschaftlich überprüft werden können. Sie stehen zu jeder gemachten Erfahrung in Beziehung und bestimmen ihre Deutung. Ein Menschen, der behauptet, die Überzeugung zu haben, dass Gott nicht existiert und alles in der Welt eine natürliche Ursache hat, der hat eine naturalistische Weltanschauung. Er ist ein Naturalist. Würde der Zeugenbericht eines Wunders - wie etwa der, der Auferstehung Jesu Christi - an ihn herangetragen, so würde er ihn nicht als wahr annehmen. Selbstverständlich könnte ein Christ ihm die bemerkenswerten historischen Fakten vorlegen und historisch-juristisch beweisen, dass Christus von den Toten auferstanden ist. Die naturalistische Weltanschauung würde ihm folgendes diktieren (sofern der Hl. Geist nicht erleuchtet und eine Bekehrung bewirkt, indem er die naturalistischen Überzeugungen verwerfen und biblische Überzeugungen annehmen lässt): „Es ist erstaunlich, aber Jesus scheint wirklich von den Toten auferstanden zu sein. Du hast damit aber keineswegs bewiesen, dass Gott existiert und Jesus der Sohn Gottes ist. Eines Tages werden wir eine natürliche Erklärung dafür finden, warum er aus den Toten auferstand.“ 

 

Der Herr Jesus lehrte genau diese Wahrheit in seinem Bericht vom armen Lazarus und dem Reichen, dass derjenige, der die Offenbarung Gottes ablehnt (zum damaligen Stand waren das „Mose und die Propheten“), auch nicht überzeugt werden würde, wenn einer von den Toten auferstünde (Lk 16,30ff.). Solchen Menschen fehlt der notwendige Rahmen, um so ein Ereignis richtig zu deuten und einzuordnen. Es fehlen die notwendigen Denkvoraussetzungen (biblische Grundannahmen), um zu den richtigen Schlüssen zu kommen. Wer die Bibel als absolut wahre Offenbarung Gottes ablehnt, hat eine nicht-christliche Weltanschauung.

 

In letzter Konsequenz geht es um die Frage: Welche Weltanschauung ist wahr? Dabei müssen sie einer internen Prüfung auf Widerspruchsfreiheit unterzogen werden und ob sie die notwendigen Voraussetzungen der Verständlichkeit (Intelligibilität) erfüllen, d.h. ob Wissen unter ihrer Voraussetzung möglich wäre. Es ist wie bei einer Probefahrt: die Weltanschauung annehmen und probefahren. Man könnte noch grundlegender ansetzen und fragen, welche Weltanschauung denn vorausgesetzt werden muss, um überhaupt so eine Prüfung der Weltanschauungen zu ermöglichen? 

 

Die biblische Weltanschauung ist konkurrenzlos

Der christlich-biblische Standpunkt ist, dass Gottes Offenbarung die unerlässliche Grundvoraussetzung ist, um irgendetwas wissen zu können (Spr 1,7; Klo 2,3). Wissen heißt, im Besitz wahrer Überzeugungen über die Realität zu sein. Wahre Überzeugungen können vom Menschen wegen dem unendlichen Begründungsrückgriff nicht begründet werden (vgl. sog. Münchhausen-Trilemma). Die Wahrheit einer beliebigen Aussage A muss durch eine oder mehrere andere Aussagen B und evtl. C und D usw. begründetet werden. Diese begründenden Aussagen B usw. müssen wiederum durch andere Aussagen begründet werden und diese wieder durch weitere.

 

 

Daraus folgt, dass der Mensch keine einzige Aussage begründen kann, wenn er alle Aussagen begründen muss. Er müsste also allwissend sein, um nur eine einzige Aussage wirklich wissen zu können. Oder!, er hat eine Offenbarung von einem allwissenden Wesen, Gott, der ihm bestimmte Dinge auf eine Weise offenbart, dass er sie gewiss wissen kann. 

 

Hierbei spielt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen eine wichtige Rolle. Was nützt ein allwissender Schöpfer, dessen Gedanken wahr sind, der aber absolut transzendent ist und die Gedanken des Menschen deshalb nicht mit den Gedanken Gottes übereinstimmen können? Wie könnte z.B. ein Moslem behaupten, dass seine Gedanken mit den Gedanken Allahs im Entferntest übereinstimmen, wenn im Koran die absolute Transzendenz Allahs (tanzih) gelehrt wird, so dass Allah mit nichts in der Schöpfung verglichen werden kann? Ebenso könnte ein Mensch versuchen einem Regenwurm Spanisch beizubringen. Der Wurm wird die Gedanken nicht nachvollziehen können. Daher ist auch die Lehre der Trinität und die Fleischwerdung des Sohnes, der zweiten Person der Gottheit in und durch Jesus Christus, unverzichtbar. Die Gottesebenbildlichkeit ist dabei die Voraussetzung, dass der ewige Logos überhaupt Mensch werden konnte. Er ist der Mittler zwischen dem Gott, der in einem unzugänglichen Licht wohnt (1. Tim. 6,16) und den Menschen (1. Tim. 2,5). Der Mittler selbst muss 100% wahrer Gott und 100% wahrer Mensch sein, sonst besteht keine Grundlage für Offenbarung und ohne Offenbarung von Gott keine Grundlage für Wahrheit und Wissen. Es gilt nämlich der Grundsatz, dass nur Gott selbst Gott offenbaren kann. Kein Engel oder sonst ein (Geist)Wesen erfüllt die Bedingungen, um den absolut heiligen und abgesonderten Gott zu erfassen. Die göttliche Seite des Herrn Jesus garantiert, dass es eine tatsächliche Offenbarung Gottes über Gott ist, und seine menschliche Seite, dass es eine tatsächliche Offenbarung über Gott für den Menschen ist. 

 

Die biblische Weltanschauung ist unwiderlegbar

Aus diesen und anderen Gründen ist Gott, wie er sich in den Schriften der Bibel offenbart hat, die nicht wegzudenkende Voraussetzung der Verständlichkeit (Intelligibilität). Ohne ihn gäbe es kein Erkennen, Wissen oder Verstehen. Das bedeutet auch, um zum ursprünglichen Thema zurück zu kommen, dass ohne den biblischen Gott keine absoluten Gesetze der Logik möglich wären, wie etwa der Satz vom Widerspruch. Gott muss die absolute Wahrheit in Person sein und keine blinde Kraft, um sich zu offenbaren (Tit. 1,2; Joh. 14,6; 17,17) und darf sich selbst nicht verleugnen können (2. Tim. 2,13). Das ist die biblische Grundlage für das Gesetz der Widerspruchsfreiheit im Wesen Gottes. Der biblische Gott ist auch der ewige logos, was mit Wort, Verstand, Lehre und Logik übersetzt werden kann (Joh 1,1). Er ist allwissend und allmächtig, weil er alles erschaffen hat (Joh 1,3). Er ist derjenige, der jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt und so Licht  des Lebens (Bewusstseins) gibt (Joh 1,4.9). 

 

Da die Gesetze der Logik

  1. immateriell,
  2. universell gültig und
  3. unwandelbar

sein müssen, ist der biblische Gott, welcher

  1. Geist ist,
  2. allgegenwärtig und
  3. unwandelbar,

die unabdingbare Grundlage für absolute Gesetze der Logik. Was ist die Grundlage für absolute Gesetze der Logik, getrennt vom biblischen Gott? In einem materialistisch-atheistischen Universum laufen im menschlichen Gehirn lediglich elektrochemische Reaktionen ab. Gedanken sind vor solch einem Hintergrund nichts weiter als zufällig entstanden Nebenprodukte dieser biochemischen Reaktionen. Sie werden gesteuert und bestimmt von Gesetzen der Chemie, Biologie und Physik. Der Mensch müsste denken und für wahr halten, was er eben denkt und für wahr hält. Ein wirkliches rationales Abwägen und Vergleichen von Positionen und Argumenten wäre nicht möglich. Wenn sie wahr wäre, so gäbe es keine Gründe, warum sie wahr sein sollte. Es handelt sich um eine Sicht, die sich selbst untergräbt und der Absurdität überführt. 

 

 

Tatsächlich würden demnach wirkliche Widersprüche die Wahrheit der Bibel voraussetzen. Denn wer die Wahrheit der Bibel als Gottes Offenbarung nicht als seinen Anfangsgrund nimmt, der verliert jegliche Grundlage für absolute, unwandelbare, immaterielle, abstrakte und universal gültige Gesetze der Logik. Wirkliche Widersprüche in der Bibel würden voraussetzen, dass es keine wirklichen Widersprüche in der Bibel gibt. Sie müssen als scheinbare Widersprüche verstanden werden und das Bestreben muss sein, sie zu harmonisieren. Das ist die einzig konsistente Haltung. Die logische Konsequenz ihrer Ablehnung führt zum selbstwidersprüchlichen und -widerlegenden Skeptizismus, dass man nichts wissen kann, nicht einmal das. Was nichts anderes als intellektueller Tod ist.

Letzte Änderung 18.08.2016